Zum 72. Geburtstag des Grundgesetzes – Von Marie Provencal
Wie wollen wir leben? Selbstbestimmt und in Freiheit, geschützt vor Willkür.
Schlagworte, denen wohl alle zustimmen würden, aber – wie sichern wir eigentlich unser freies, selbstbestimmtes Leben? Worauf stützen wir uns? Allem voran auf unser Grundgesetz, die Verfassung der Bundesrepublik. Es garantiert uns mit den Artikeln 1-20 unsere Grundrechte und definiert weiter den Aufbau, die Struktur, sowie die Funktion unseres politischen Systems.
Zu den wichtigsten Artikeln zählen:
- „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ (Art. 1 (1))
- Körperliche Unversehrtheit und Freiheit der Person (Art.2)
- Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 3)
- Religions- und Glaubensfreiheit (Art.4)
- Meinungs- und Pressefreiheit: In Wort, Schrift und Bild (Art.5)
- Versammlungsfreiheit (Art.8)
Die Artikel 1-20 GG sind mit einer Ewigkeitsklausel (Art. 79 GG) geschützt, sie dürfen nie verändert werden.
Wir haben in unserem Alltag unsere Grundrechte so internalisiert, halten sie für so selbstverständlich, dass wir meist wenig im Einzelnen über sie nachdenken. Doch mit der Corona-Pandemie ist uns ihre konkrete Bedeutung kollektiv ins Bewusstsein gerückt und unser Grundgesetz findet sich im ungewohnten Mittelpunkt öffentlicher Diskussion wieder. Es lohnt sich also, einmal genauer hinzusehen. Aber davor ein kurzer Blick zurück: Wie entstand unsere Verfassung überhaupt und wieso nennen wir sie Grundgesetz?
Ein neuer Anfang
Nach Ende des 2. Weltkrieges 1945 gaben die drei westlichen Siegermächte (USA, Großbritannien, Frankreich) den westdeutschen Ministerpräsidenten 1948 mit den ‚Frankfurter Dokumenten‘ Leitlinien an die Hand, nach denen eine liberal-demokratische Verfassung für die Bundesrepublik ausgearbeitet werden sollte. Ziel war die Einbindung der BRD in ein westliches Werte- und Wirtschaftssystem, insbesondere in Anbetracht des heraufziehenden kalten Krieges. Die Sowjetunion als vierte Siegermacht beteiligte sich an diesen Vorgängen nicht und sah für ihre Besatzungszone die Etablierung eines eigenständigen, sozialistischen Staates vor, die spätere DDR.
Im September 1948 wurde der Parlamentarische Rat eröffnet, bestehend aus Abgeordneten aller Bundesländer der BRD, mit dem Ziel eine Verfassung auszuarbeiten. Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz schließlich unterzeichnet. Formuliert mit dem besonderen Ziel und der besonderen Verantwortung, den demokratischen Rechtsstaat zu sichern und Ereignisse wie das Scheitern der Weimarer Republik und der folgenden Diktatur der Nationalsozialisten zukünftig unmöglich zu machen. Der Begriff ‚Verfassung‘ wurde bewusst vermieden und durch ‚Grundgesetz‘ ersetzt, da es nicht für die gesamte deutsche Bevölkerung geltend wurde, sondern nur für den westdeutschen Teil. Man hoffte weiter auf die Einbindung der sowjetischen Zone, eine Vereinigung sollte aber noch 40 Jahre auf sich warten lassen.
Die Diskussion heute
Zu keinem Zeitpunkt der Geschichte waren Grundrechte so sehr im Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit wie in der Corona-Pandemie. Beschlossene Maßnahmen wie Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen engen die Grundrechte erheblich ein – das ist noch nie vorgekommen und ist trotzdem rechtmäßig. Rechtmäßig, wenn es einen legitimen Zweck verfolgt, in diesem Fall den Gesundheitsschutz der Bevölkerung, und wenn es kein milderes Mittel gibt, um diesen Zweck zu erfüllen.
Im Zuge der 2020 entstandenen ‚Querdenker-Bewegung‘ sieht sich das Grundgesetz vor einer anderen, paradoxen Herausforderung: Die Gruppierung stellt sich vermeintlich gegen Grundrechtseingriffe, Pandemie-Schutzmaßnahmen und Freiheitsbeschränkungen. Unter diesem Deckmantel stehen aber immer mehr Verschwörungstheorien, Holocaustleugnung, Antisemitismus, Rechtsextremismus und die Ablehnung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung im Mittelpunkt, sodass Teile der Bewegung nun auch vom Verfassungsschutz beobachtet werden. All diese Punkte sind mit unserem Grundgesetz absolut nicht vereinbar, sie stehen viel eher gegen alle Werte, die es schützt. Am konkretesten lässt sich das an der Bedrohung, Aggression und Gewaltbereitschaft erkennen, die Journalist*innen bei Berichterstattungen auf Querdenker-Demonstrationen teils ganz real erfahren. Unter dem Argument, das Grundgesetz schützen zu wollen, wird es also in seinen Grundfesten bedroht.
Und dennoch: Unsere Verfassung ist heute gefestigt und unsere Demokratie stabil – aber sie lebt von einer aktiven Gesellschaft, die sich ihrer Grundwerte- und rechte bewusst ist und nie müde wird, sich für diese einzusetzen – auch noch nach 72 Jahren Grundgesetz.
Wenn du mehr erfahren möchtest:
Das Grundgesetz zum Nachlesen findest du hier.
Ein Kartenspiel zum Grundgesetz? – Hier erfährst du mehr zum „Tugendvogel“.