von Marie Provencal
„Es ist normal, verschieden zu sein. Es gibt keine Norm für das Menschsein. […]. Humanes Zusammenleben, Integration, braucht zuerst und vor allem Raum in den Köpfen und Herzen der Menschen.
(Richard von Weizsäcker, 1993)
Unsere Gesellschaft ist in jedem Fall vieles, aber eines ganz sicher – vielfältig! Sei es kulturell oder religiös, seien es PoC, die LGBTQ+ Community, Menschen mit Beeinträchtigung oder Behinderung: Verschiedenste gesellschaftliche Gruppen, Lebensmodelle und Lebensgeschichten prägen unser Zusammensein – wir entwickeln uns weiter, werden diverser und treffen uns – inmitten dieser Unterschiedlichkeit – an dem Punkt, der uns zusammenhält: das gemeinsame Eintreten für diese Vielfalt.
Aber trotz positiver Entwicklungen und dem immer größeren Bewusstsein für Diversität, kann und darf man nicht ignorieren, dass diese Vielfalt für zahlreiche Menschen gleichzeitig immer noch bedeutet, Teil marginalisierter Gruppen zu sein. Sie stehen Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen gegenüber, die es zu bekämpfen gilt. Um Missständen zu begegnen, um Interessen zu vertreten und um auf Bedürfnisse und Themen marginalisierter Gruppen einzugehen, muss man sie sehen, sie müssen sichtbar sein.
Und damit das für jede*n einzelne*n geschieht, muss man sich repräsentiert fühlen. Repräsentation und Interessensvertretung der Bevölkerung ist die Aufgabe unserer gewählten Vertreter*innen, nicht nur im Bundestag, auch in den Bundesländern, in den Kommunen, Städten und Gemeinden direkt vor Ort. Natürlich ist jede*r dazu aufgerufen, sich mit den Interessen und Themen von Minderheiten auseinanderzusetzen und sich zu solidarisieren – aber um das Gefühl zu haben, es gibt jemanden, der meine Lebensrealität versteht, ist Identifikation das Stichwort. Sieht man in öffentlichen Institutionen Personen, mit denen man sich identifizieren kann, schafft das ein tieferes Zugehörigkeitsgefühl, als wenn dem nicht so ist. Vielfalt ist erstrebenswert, aber in den meisten Positionen noch keine Realität, Beispiele dafür gibt es viele: Schon ein kurzer Blick in die Mitgliederliste des Heilbronner Gemeinderats zeigt, dass Diversität und Vielfalt noch Umsetzungspotential haben. Auch im Bundestag und im Landtag Baden-Württemberg sind Minderheiten unterrepräsentiert. Die angesprochenen Problematiken treffen auch auf Frauen zu, obwohl diese eigentlich sogar die Mehrheit der Bevölkerung stellen. Zwar schaffte es unser Landtag dieses Jahr, so viele Frauen wie noch nie im Parlament zu haben, der Prozentsatz liegt aber trotzdem bei zu geringen 29%.
Wo liegen die Ursachen und was ist zu tun?
Die Tatsache, dass manche gesellschaftliche Gruppen nicht die Repräsentation und damit Sichtbarkeit erhalten, die ihnen zustehen würde, hat viele Ursachen. Alte Strukturen sind teils so verankert, dass sie sich leider offensichtlich nur schwer und langsam verändern lassen und erscheinen als eine Art Teufelskreis. Demokratie lebt von Teilhabe, doch wenn man das Gefühl hat, nicht repräsentiert zu werden, irgendwie keinen Platz zu haben und wenn vor allem Vorbilder fehlen – führt das eher zu einer Entfremdung betroffener Personen und zu einem negativen Wechselspiel zwischen mangelnder Teilhabe und Repräsentation.
Voraussetzung für Veränderung ist, dass Menschen Zugang in relevante Positionen und Ämter ermöglicht wird. Aber hier beginnt die Chancenungleichheit früh, zieht sich oft durch die Lebensbiografie und ist für Betroffene nur schwer zu durchbrechen. Angefangen bei der Bildungsgerechtigkeit, die nach wie vor von (sozialer) Herkunft beeinträchtigt wird und Chancengleichheit verhindert, findet auch im Berufsleben Diskriminierung zum Nachteil marginalisierter Gruppen statt. Diese Tatsachen wirken sich ebenso auf die Strukturen in öffentlichen Verwaltungen, in der Polizei, in Bildungseinrichtungen, aber natürlich auch in der Privatwirtschaft aus. Dass fehlende Vielfalt gravierende Folgen nach sich ziehen kann, zeigen die rechtsextremen Vorfälle und Rassismusvorwürfe gegen die deutsche Polizei an verschiedenen Stellen.
Strukturen und Hürden scheinen so groß; Veränderung scheint so schwierig – aber genau deshalb kommt es hier auf wirklich jede*n Einzelne*n von uns an. Zusammen bilden wir das gesellschaftliche Ganze und können die Gesellschaft auch verändern. Wir müssen ermutigen, unterstützen und solidarisch sein – solange, bis alle eine eigene Stimme haben, die laut genug ist, um für sich selbst einzutreten zu können.